Work-Life-Balance? Dehnungsfugen!

Der Begriff Work-Life-Balance ist für mich überholt. Die Idee dahinter bleibt jedoch aktuell, wichtig und gut, nur braucht ihre Umsetzung in die Tat einen anderen Fokus.

Aus dem Personal Letter vom Januar 2014:

Wenn Sie „Work-Life-Balance“ immer schon geliebt haben, sollten Sie hier aufhören zu lesen. Ist es eher so, dass Sie – wie ich – diesen Begriff nicht mögen, dann nehmen Sie sich jetzt ein bisschen Zeit für meinen Personal Letter zum Jahresauftakt 2014.

Was meint Work-Life-Balance?

Zunächst klingt es sehr eingängig, wenn man die englischen Worte einfach übersetzt: „Arbeits-Lebens-Gleichgewicht“ würde das im Deutschen heißen. Nimmt man den Begriff als Wort auseinander, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Will Work-Life-Balance uns sagen, dass wir Arbeit und Privatleben in Einklang bringen sollen? Das suggeriert – so wie die Dreiteilung in drei einzelne Worte, verbunden nur mit dem Bindestrich – doch, dass Arbeit bzw. Beruf etwas vom Privatleben Getrenntes sei, also quasi abseits vom Leben passiert. Wie passt das zu Menschen, die sich stark mit ihrem Job identifizieren? Zu Menschen, die intrinsisch motiviert an die Arbeit denken, die darin aufgehen, was ihr Beruf mit sich bringt? Wie paßt das vielleicht auch in die heutige Zeit?

Kontinuierliche Balance und Trennung von Arbeit und Privatleben
sind eine Illusion

Müll, Silben, Liebe und Sex – das lässt sich alles mehr oder weniger gut trennen. Bei Job und Privatleben wird’s da schon schwieriger. 91% der Deutschen arbeiten gerne, sagt das Forsa-Institut. Gleichzeitig klagt jeder Fünfte über Freizeitstress. Hier mühsamer Brotjob, dort Feierabendglück:
Der Gegensatz hat sich überlebt. Genau wie die Vorstellung von der ausgewogenen Work-Life-Balance. 50 Prozent Arbeit, 50 Prozent Freizeit = 100 Prozent Zufriedenheit?

Die Realität heute sieht anders aus. Unsere Arbeits- und Freizeiten werden flexibilisiert, die Tätigkeits- und Lebeorte ebenso. Zukunftsweisende Unternehmen wie Google bieten ihrem Team die Möglichkeit, Freizeit auch am Arbeitsplatz zu verbringen, weil sie dort Filme schauen, Videospiele spielen oder Sport treiben können – und das sogar umsonst. In der Medienwirtschaft ist es nicht unüblich, dass die mit Smartphone ausgestatteten Mitarbeiter bis 22.00 Uhr zuhause für Kunden erreichbar sind – auch wenn sie nebenbei das Abendessen zubereiten und die Hausaufgaben mit den Kindern besprechen. Große Unternehmensberatungen wiederum ermöglichen ihren Beraterinnen und Beratern nach anstrengenden Projekten, die gar keine freie Zeit zuließen, dreimonatige Auszeiten oder Sabbaticals – hier wird Arbeitszeit und Freizeit zwar wieder getrennt – aber von einer Balance kann man wohl kaum sprechen.

„Work“ und „Life“ vermischen sich also zeitlich und örtlich, und jeden Tag sieht es anders aus mit der Verteilung im Tagesablauf. Wer ständig versucht Arbeit und Freizeit penibel auszutarieren, hat am Ende nur (noch mehr) Stress.

Der Begriff Work-Life-Balance ist daher für mich überholt.

Die Idee dahinter bleibt jedoch aktuell, wichtig und gut, nur braucht ihre Umsetzung in die Tat einen anderen Fokus.

Work-Life-Balance ist passé – es lebe die Dehnungsfuge

Mein lieber Kollege, der Psychologe Stephan Grünewald aus Köln, hat für unser Bedürfnis, täglich eine ausgeglichene Bilanz anregender und entspannender Zeiten zu erreichen, den Begriff der „Dehnungsfuge“ geprägt.

Was ist eine Dehnungsfuge?

„Die Dehnungsfuge ist eine Fuge, die Temperaturschwankungen, das Quellen und Schwinden ausgleicht, indem sich das Bauteil in den Bereich der Fuge ausdehnen kann. Sie werden systematisch angelegt und mit einem dauerelastischen oder dauerplastischen Material ausgefüllt. So wird eine Rissbildung in den großflächigen, starren Bauteilen verhindert. Ohne Dehnungsfugen können die Risse statische Beeinträchtigungen und Undichtigkeiten hervorrufen.“ – so der technische Hintergrund, gemäß spannender Heimwerker-Internetseiten. J

Die Zahl der Menschen, die an stressbedingten Symptomen wie Schlafstörungen oder komplexen Erschöpfungserscheinungen wie einem Burnout leiden, steigt seit einigen Jahren dramatisch. Schneller, besser, mehr scheint die Devise zu heißen – und wer tapfer ist, wird am Ende noch mit einem ordentlichen Burnout belohnt. Das Gefühl der eigenen Ausgelaugtheit wird in unserer Gesellschaft zum Gradmesser von Produktivität.

Bitte nicht! Wir leben in einer erschöpften Gesellschaft, geplagt von Unruhe, rennend von einem Projekte zum anderen. Und ja, viele von uns arbeiten sicher oft zu viel. Vor allem aber zu dicht: dauerhafte Erreichbarkeit via Smartphone, keine Pausen während des Arbeitstages, kaum Ausgleich zwischen Belastung und Entlastung.

Kurzum: Unser enger, dichter, hektischer Alltag braucht Dehnungsfugen! Momente der Pause. Momente des Dösens, Schlafens, Entspannens – und aktive Tätigkeiten, die belebend wirken und nicht auf ein Ziel gerichtet sind, wie wir das von der Arbeit kennen.

So können Sie Dehnungsfugen auch in Ihren All-Tag einbauen,

6 einfache Ideen für Sie und mich:

1. Entspannt in den Tag starten:

Morgens mal ein paar Minuten liegen bleiben und dösen, darüber nachsinnen, wie sich mein Körper gerade anfühlt, wie meine Stimmung ist oder was ich geträumt habe. Oder beim Frühstück nicht nur die Brotreste durchkauen, sondern auch die Erlebnisse der Nacht.

2. Bewegung bringt uns in Fluss:

Statt mit dem Auto eine 5 Minuten-Strecke zu fahren, gehen Sie zu Fuß. Bewegen Sie sich einfach. Ohne Blick aufs Smartphone! Betrachten Sie die Bäume, hören Sie die Vögel, oder andere Menschen auf der Straße, im Gespräch, beim Bummeln. Nehmen Sie wahr, was gerade hier alles da ist. Bleiben Sie mit Ihren Gedanken und Wahrnehmungen im „Hier“ und „Jetzt“, statt schon die ersten Mails im Kopf zu formulieren, die Sie gleich im Büro schreiben werden.

3. Ablenkung und Pause für die Augen:

Schauen Sie mindestens 3 x 3 Minuten am Tag planlos, ziellos, einfach nur so (!) aus dem Fenster.

4. Soziale Kontakte bringen Ausgleich:

Hängen Sie an Ihr Team-Meeting fünf Minuten an, in denen Sie zusammen ein bisschen plaudern, den Sitz lockern, sich entspannt im Stuhl fläzen und mal zusammen lachen und sich etwas Albernes erzählen. J

5. Luft und gute Gespräche erfrischen:

Verkürzen Sie die Pause in der Kantine und gehen Sie – am besten nach dem Essen – regelmäßig mit einem Ihrer Lieblingskollegen bzw. Lieblingskollegin einen Spaziergang, bei dem Sie sich über ihre Hobbies, Ihre Kinder, Ihre nächsten Reisen oder ähnliche Themen abseits der Arbeit austauschen.

6. Tierisch entspannen:

Wer einen Hund hat, sollte den morgendlichen oder abendlichen Spaziergang mal ohne Smartphone genießen. Das freut auch Ihren Hund! Spüren Sie dagegen ganz bewusst den Boden, auf dem Sie gehen, riechen Sie, was es zu riechen und hören Sie, was es zu hören gibt – gehen Sie dafür am besten in den Wald oder aufs Feld.

Diese Momente sind die Dehnungsfugen unseres Alltags. Die brauchen wir unbedingt. Um neben der Anspannung der vielen Aufgaben auch Entspannung zu finden. Der Muskel eines Sportlers wächst auch nur bei Entspannung, nicht in der Anspannung. Wir erholen uns dann, wenn wir eine Balance aus beiden Zuständen haben.

Zuletzt noch ein wichtiger Tipp für Sie: Viele kleine Dehnungsfugen am Tag bringen wesentlich mehr Entspannung und dadurch Auftanken unserer Energiequellen als drei Stunden Couch-Potato-Spielen am Abend!

Nun wünsche ich Ihnen allen viele, viele Tage in 2014 mit schönen Dehnungsfugen,
mit kleinen Momenten der Freude, Ruhe, der Pause, des Innehaltens!

Ihre Kereen Karst

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