Aus dem Personal Letter vom Juli 2016:
Vorhersehbare Eskalationsdynamik
In einem Konflikt sind wir nicht mehr wir selbst. Wir sehen den anderen gar nicht mehr, wir erkennen in seinem Verhalten keine positive Absicht – wir erschaffen ein Feindbild, das die Realität der Situation verdeckt. Eskaliert der Konflikt, nehmen wir nur noch das Böse im Gegenüber wahr und denken Sätze wie „So gemein kann der/die sein“, „Das ist doch reine Bosheit“ …
In manchen Konfliktsituationen, die ich in Teams begleitet habe, wuchs das Unsichtbare, das Unausgesprochene zu Elefantengröße heran. Es erschien so machtvoll, dass ich mich als neutraler Außenstehender wunderte, wie sich die Menschen in diesem Konflikt im Alltag überhaupt noch bewegen konnten.
Und niemand wagte, den „Elefanten“ anzusprechen – aus Angst, dass er außer Kontrolle geraten und alle oder alles mit in den Abgrund reißen könnte. Diese Angst ist fatal, denn es ist genau diese Sprachlosigkeit, die Konflikte eskalieren lässt:
- Die Empathie füreinander geht verloren.
- Jede Aktion bestätigt nur noch die wechselseitigen Feindbilder; selbst ein Versöhnungs-angebot wird als Hinterhalt oder Taktik gewertet. Je mehr sich dieses steigert, desto mehr verlieren auch die Streithähne ihre eigenen Bedürfnisse aus dem Blick.
- Bis am Ende – im schlimmsten Fall – nur noch eins zählt: den anderen zu vernichten –
- … und sei es um den Preis des eigenen Untergangs.
Reden hilft. Das klingt banal. Aber es ist die wichtigste erste Hilfe, die jeder anbieten kann.
Denn Schweigen führt, ebenso wie ständige Vorwürfe, zu Verhärtung und Entfremdung. Es kommt jedoch darauf an, was und wie gesprochen wird, um die Eskalationsdynamik zu durchbrechen und einen Konflikt wirklich zu lösen.
Die Orangen-Fabel erzählt die Geschichte einer scheinbar einfachen Konfliktlösung.
Zwei Kinder kommen zu ihrer Mutter gelaufen, sie soll einen Streit schlichten. Wem gehört die Orange? Die Mutter könnte nun das naheliegende tun und die Orange in zwei Hälften teilen. Das wäre gerecht. Aber würde das die Kinder zufriedenstellen?
Die kluge Mutter fragt: Was ist euer Interesse an der Orange? Wozu braucht ihr sie?
Sie erfährt, dass eines der Kinder den Saft trinken möchte, während das andere die Schale als Zutat für einen Kuchen braucht. Die Frucht wird also geschält und anschließend ausgepresst. So bekommen beide Kinder, was sie wirklich wollten.
Es geht bei der Konfliktlösung also um die zentrale Frage: Welche Interessen sind hier verletzt bzw. wollen erfüllt werden? Welche Bedürfnisse stehen hinter den Positionen, dem Verhalten, den Erwartungen?
Erst, wenn das geklärt ist, kann der Konflikt gelöst werden. Doch das ist die wahre Herausforderung. Diese Fragen lassen sich im Konfliktfall nicht so einfach und direkt stellen und werden brav beantwortet. Sie zu klären ist schwierig für die Streitenden, denn die meisten von ihnen sind während eines Konfliktes eher beim „Du“ als beim „Ich“ – das Umschalten auf Ich-Botschaften, um die eigenen Interessen klar zu machen, kostet Kraft, braucht Motivation und Zeit. Und es kostet Überwindung, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren. Kaum jemand gibt z. B. gerne zu, dass er mehr Sicherheit braucht oder wie sehr er sich nach Anerkennung und Akzeptanz sehnt.
Doch es sind immer wieder diese und weitere Grundbedürfnisse, die bei der Besprechung und Lösung von Konfliktsituationen auftauchen: Sicherheit, Harmonie, Freiheit, Verbundenheit, Anerkennung, Wertschätzung.
Gelingt das Ansprechen dieser Bedürfnisse, entstehen magische und berührende Momente: In ihrer Bedürftigkeit erkennen sich die Streitenden wieder. Sie nehmen wahr, dass hinter ihren selbst konstruierten Feindbildern auch nur ein Mensch steht, der unter dem Konflikt genauso leidet wie sie selbst. Oft ist es sogar so, dass Streitende in diesem Moment der Klärung erkennen, dass der andere sich ähnlich hilflos wie sie fühlt oder ein ähnliches Interesse verfolgt – er hat es auf der Verhaltensebene im Konflikt nur anders ausgedrückt.
Wer einen Konflikt wirklich lösen will, darf ihn also nicht delegieren, sondern muss ihn selbst zur Kenntnis nehmen. Das ist oft ein harter Schritt, der schwer für viele auszuhalten ist. Er zwingt jede der Konfliktparteien, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und einzusehen, dass keiner der Streitenden nur Opfer, sondern immer auch Täter ist.
Was macht man im scheinbar aussichtslosen Fall?
In sehr verhärteten Fällen hilft oft nur noch eine Hilfe von außen. Ein Coach oder Mediator ist der Experte und Profi für das Stellen der passenden Fragen im richtigen Moment, was den Streitenden nicht mehr gelingt. Er bietet den Raum für Öffnung, für eine Kehrtwende in einer aussichtslos erscheinenden Sackgasse.
So machte es auch der griechische Philosoph Sokrates. Er brachte seine Zeitgenossen zur Verzweiflung, weil er, anders als seine Kollegen, keine klugen Ratschläge äußerte, sondern nur Fragen stellte – bohrende, behutsame, spitzfindige, naive, einfühlsame Fragen, die oft Verwirrung stifteten. Er ließ aber nicht locker – bis die Gesprächspartner durch eigenes Denken zu neuen Einsichten kamen.
Manch ein Coach oder Mediator bezeichnet seine Arbeit als „Hebammenkunst“: das zielführende Fragen ist wie eine Geburtshilfe, mit deren Hilfe die Streithähne wieder Zugang zu einem Wissen über sich selbst finden, das im Streit verloren gegangen scheint.
Solche Fragen helfen im Konflikt:
- Fragen, die das Gegenüber einladen, etwas neu wahrzunehmen
- Fragen, die helfen, unausgesprochene Bedürfnisse zu thematisieren
- Fragen, die den Kern des Konflikts auf den Punkt bringen
Der entstandene Eisberg schmilzt, es zeigen sich die dahinter liegenden Interessen, Bedürfnisse, Sorgen, Fragen, Unklarheiten und Träume. Etwas gerät in Bewegung. Neues wird möglich.
Der Konfliktforscher Lars Kirchhoff sagt es so: „Wer Frieden will, muss seine Feinde verstehen.“
Für mich zeigt sich immer wieder: Vergebung bedeutet nicht, erlittene Verletzungen zu leugnen. Sondern sie innerlich loszulassen, um Frieden zu schließen – vor allem mit sich selbst.
Ihre Kereen Karst